Psychosoziale Begleitung bei Gerichtsprozessen für Jugendliche
Wir helfen Dir bei der Entscheidung für oder gegen eine Anzeige. Wir unterstützen Dich auch, wenn du schon angezeigt hast.
Ein Gerichtsverfahren kann sich über einen langen Zeitraum erstrecken und kann eine emotionale Belastung sein. Dann ist es gut, wenn du nicht alleine bist, sondern professionelle Unterstützung hast.
Prozessbegleitung kann entlastend sein.
Seit dem 1. Januar 2017 haben besonders schutzbedürftige Personen einen Anspruch auf professionelle Begleitung und Betreuung während des gesamten Strafverfahrens. Dafür muss ein Antrag bei Gericht gestellt werden. Wir beraten dich dazu und bieten diese Form der beigeordneten Prozessbegleitung ebenfalls an. Informationen dazu findest du hier: BMJV
Die Prozessbegleitung durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter von Zartbitter ist eine Möglichkeit, dich zu stützen und dir Raum zur Verarbeitung der Erfahrungen während des Gerichtsverfahrens anzubieten.
Die Prozessbegleitung kann man in vier Phasen darstellen:
1. Entscheidungsphase
Kennenlernen * Vertrauen * Selbstvertrauen
Zu Anfang sollte man sich natürlich erst mal kennenlernen. Vertrauen ist ein wichtiger Bestandteil für die weitere Arbeit. Die Beraterin/der Berater kann dich in vielen Lebensbereichen stärken, um dich für das Verfahren zu stabilisieren. Auch kannst du dadurch viel Mut und Selbstvertrauen entwickeln, die dir in dieser Zeit hilfreich sein können.
Anzeige – Ja oder Nein?
Wenn du sexuellen Missbrauch oder sexuelle Übergriffe erlebt hast oder sie immer noch erleben musst, entschließt du dich vielleicht, den/die Täter*in anzuzeigen.
Es ist ratsam und wichtig, sich vor dieser Entscheidung Hilfe und Unterstützung zu holen und auch gut über diesen Schritt nachzudenken.
Bei rechtlichen Fragen kooperieren wir mit Rechtsanwält*innen. Rechtsberatung bieten wir nicht an.
Strafverfolgung
Sexueller Missbrauch ist ein "Offizialdelikt" - das bedeutet, dass die Strafverfolgung ohne Antrag durch den Staat erfolgt und auch gegen den Willen von Betroffenen geschieht. Eine Anzeige, die einmal gestellt worden ist, kann deshalb nicht mehr zurückgezogen werden. Es besteht Ermittlungspflicht für die Strafverfolgungsbehörden.
Gerichtsverfahren
Häufig findet nach einer Anzeige ein Gerichtsverfahren statt.
Da du als Betroffene*r oft als einzige/r Tatzeug*in gehört wirst, kann dies eine große psychische Belastung bedeuten. In solch einer Situation kann es für dich besser sein, wenn du nicht alleine bist und dich nicht nur auf dich selbst verlassen musst.
2. Vorbereitungsphase
Gerichtssaal anschauen • Prozess besuchen • Ängste abbauen
Zur Vorbereitung gehören auch das Kennenlernen und die Erklärung des Ablaufs von Strafverfahren und der Gerichtsverhandlung.
Prozessablauf
Hierzu hast du bestimmt viele Fragen:
- Wie sieht der Gerichtssaal aus?
- Welche Personen sind anwesend und wer sitzt wo?
- Muss ich die ganze Zeit im Gerichtssaal sitzen?
- Darf mich der/die Täter*in auch fragen?
- Was passiert in den Pausen?
- Wer darf mitkommen?
- Kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden?
- Wer darf Fragen stellen?
- Begegne ich dem/der Täter*in im Flur?
- Darf er/sie mit mir reden?
- Was ist ein Plädoyer?
- Wann redet der/die Gutachter*in?
- Wie lange dauert alles?
- etc.
Am besten schaut man sich einen Gerichtssaal gemeinsam an oder besucht eine Verhandlung, natürlich nur, wenn du das auch möchtest.
Ganz wichtig in dieser Phase ist, dass du das, was auf dich zukommt besser durchschaust und so manche Ängste abbauen kannst. Vielleicht stellen sie sich als unbegründet oder doch gar nicht so schlimm heraus. Oder du merkst vielleicht, dass du das ja nicht alleine machen musst, sondern dass jemand bei dir ist, dem du Dich anvertrauen kannst, dem du sagen kannst, was dich bedrückt, was dir Angst macht oder dich verunsichert. Gemeinsam könnt ihr dann nach Wegen suchen, die es für dich einfacher machen können.
Die rechtlichen Fragen können zusammen mit der/dem jeweiligen Rechtsanwält*in geklärt werden. Auch dort brauchst du nicht alleine hinzugehen.
3. Prozessphase
Aussage • Urteilsverkündung • Achtsamkeit
Während der Prozesstage begleiten wir dich vor Gericht und falls du es wünschst und es möglich ist, sitzt die Betreuerin oder der Betreuer auch während der Aussage als "Beistand" mit vor der/dem Richter*in. Dies kann sehr beruhigend sein und zusätzlich einen "Sichtschutz" oder ein "Polster" in Richtung der/des Angeklagten bieten. So bist du vor einem direkten Augenkontakt geschützt.
Nach der Aussage ist es möglich, sofort den Raum zu verlassen und, wenn du es möchtest, zur Urteilsverkündung wieder in den Gerichtssaal zurückzukehren.
Die Urteilsverkündung und auch das Urteil an sich können noch einmal eine große Anspannung bedeuten. Der achtsame Umgang mit dir ist hier sehr wichtig.
An die Frage "wie gehe ich mit dem Urteil um und was ist danach?" schließt sich die dritte Phase der Prozessbegleitung an.
4. Nachbetreuungsphase
Fragen • Zweifel • Gefühle
Mit dem Prozess und der Urteilsverkündung ist dein innerlicher Prozess meist nicht abgeschlossen. Viele Fragen, Gefühle und die Bewältigung der sexualisierten Gewalterfahrungen sind auch nach dem Urteil noch akut. Deshalb ist die Nachbetreuung aus unserer Sicht unbedingt notwendig, um dich weiterhin zu stützen und dir dabei zu helfen, dass du nicht in "ein tiefes Loch" fällst.
Auch bei Verurteilung kann es passieren, dass du von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt wirst, z.B. von dem Gedanken, dass man einen Menschen ins Gefängnis gebracht und die Familie auseinandergerissen hat.
Bei einem Freispruch des/der Angeklagten oder Verhängung einer Bewährungsstrafe zweifelst du vielleicht an dir selbst. In dieser Zeit kannst du bei uns Hilfe und Unterstützung bekommen.
DU BIST NICHT ALLEIN.
Lesetipp
Fastie, Friesa; Wildwasser Berlin e.V. (Hrsg.)
Ich weiß Bescheid. Sexuelle Gewalt: Rechtsratgeber für Mädchen und Frauen.
Berlin 2010.